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28 Jahre im Todestrakt – Rolf Becker über Mumia Abu-Jamal

20.05.10 (von ivk) Die Kampagne gegen die Todesstrafe und für die Freiheit Mumia Abu-Jamals kann nur stärker werden und zum Erfolg führen, wenn sie sich auf der Basis der richtigen Inhalte organisiert. Rolf Becker legt einen Artikel vor, der nicht nur die tiefe Zuneigung des Freundes und Genossen zum Ausdruck bringt, sondern folgerichtig die Zusammenhänge zwischen Todesurteil und US-Opposition, "Rassen"- und Klassenjustiz und des angemessenen Widerstandes dagegen auf den Punkt bringt und am Beispiel eines ›Spiegel‹-Hetzartikels die Propaganda einiger Medien gegen die Solidaritätsbewegung analysiert und erklärt, warum die bürgerliche Klasse ihre Werte preisgibt. Dieser Artikel verdient massenhafte Verbreitung und ebenso massenhafte Bestellung des OSSIETZKY-Sonderdrucks zum Auslegen auf allen Infotischen!

Vorbemerkung: Der nachfolgende Artikel erschien zunächst im April 2010 in der Nr. 8/2010 des OSSIETZKY, der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft, und wurde dann wegen der großen Nachfrage noch einmal als Sonderdruck aufgelegt. Dieser Sonderdruck kann über die am Ende angegebene Adresse für 1,00 Euro pro Exemplar bestellt werden. Er eignet sich sehr gut für Infotische der Kampagne. Der Erlös geht auf das Bremer Spendenkonto und so direkt an die Verteidigung (Konto siehe vorletzten Absatz des Artikels). Wir empfehlen gleichzeitig, dieses sehr gute Periodikum linker Opposition in der BRD zu abonnieren. Die OSSIETZKY-Abo-Adresse ist ebenfalls ganz am Ende zu finden


28 JAHRE IN DER TODESZELLE


Rolf Becker über Mumia Abu-Jamal

»Wir, die Unterzeichner, ersuchen Sie hiermit, sich gegen die Todesstrafe für Mumia Abu-Jamal auszusprechen sowie gegen die Todesstrafe für viele Männer, Frauen und Kinder überall auf der Welt, die ihrer Hinrichtung entgegensehen. ›Diese höchste Form der Bestrafung ist für eine zivilisierte Gesellschaft inakzeptabel und untergräbt die Menschenwürde.‹ (Generalversammlung der Vereinten Nationen, Moratorium on the Use of the Death Penalty, Resolution 62/149, 18. Dez. 2007; bestätigt: Resolution 63/168, 18. Dez. 2008.)«

Diese Petition, gerichtet an den US-Präsidenten Barack Obama, wird hier den Ossietzky-Lesern mit der Bitte um Unterzeichnung im Internet vorgelegt, wo sie unter http://www.petitiononline.com/Mumialaw/petition.html aufrufbar ist – eine Form der Unterschriftensammlung, die eine wirksame internationale Aktion ermöglicht.

Die Initiatoren – Mumias Unterstützungskomitees in mehreren Ländern – haben keine Illusionen über Obamas Kompetenzen. Auch für den Präsidenten der USA gilt, was Marx und Engels schon 1848 in ihrem »Manifest« konstatiert haben: »Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.« Es geht um ein Zeichen des weltweiten Protestes an die Herren über Leben und Tod, notwendiger denn je nach der jüngsten Entscheidung der höchsten Instanz der US-Justiz gegen Mumia.

Die Entscheidung des U.S. Supreme Court vom 19. Januar 2010 wurde von der Mehrzahl der deutschen Medien wie FAZ, Welt, Süddeutsche Zeitung, Rheinische Post oder 3sat-Magazin Kulturzeit so bewertet, als habe Mumia Abu-Jamal jetzt die Chance, daß sein Verfahren »neu aufgerollt« werde. Das Gegenteil ist der Fall: Der Oberste Gerichtshof der USA hatte bereits am 6. April 2009 eine Wiederaufnahme des Verfahrens, also eine völlig neue Beweisaufnahme und Urteilsfindung, letztinstanzlich abgelehnt. Damit ist Abu-Jamals Verurteilung wegen Polizistenmordes höchstrichterlich festgeschrieben. Kein US-Gericht soll sich mehr mit den zahlreichen Unschuldsbeweisen befassen.

Mit der Entscheidung vom 19. Januar folgte der Supreme Court nun obendrein auch noch der Bezirksstaatsanwaltschaft von Pennsylvania und hob zwei nie rechtskräftig gewordene Entscheidungen von Bundesgerichten der Jahre 2001 und 2008 auf, die eine Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Haft vorgesehen hatten. Immerhin gab der Supreme Court nicht dem drängenden Hinrichtungswillen der Staatsanwaltschaft nach, sondern er verwies den Fall zunächst noch einmal zur Klärung verfassungsrechtlicher Fragen an das 3. Bundesberufungsgericht in Philadelphia zurück. Dort soll vor allem nachgeprüft werden, ob die Geschworenen ausreichend über die Berücksichtigung mildernder Umstände belehrt worden sind. Das Bundesgericht soll unter Berücksichtigung dieser Auflage neu entscheiden – wogegen beide Prozeßparteien dann nochmals den Supreme Court anrufen können.

In einer ersten Stellungnahme dazu erklärte Robert R. Bryan, Abu-Jamals Hauptverteidiger, am 20. Januar 2010: »Wir gehen einen Schritt zurück und verhandeln erneut über das Todesurteil vor einem unteren Gericht.« Mumia Abu-Jamal sei aber weiterhin zum Tode verurteilt und bleibe im Todestrakt, der Zeitpunkt einer endgültigen Entscheidung sei nur aufgeschoben. Wenige Tage später betonte Bryan in einem Interview, worum es nach seiner Einschätzung Staatsanwaltschaft und Supreme Court letztendlich gehe: »Mumias Körper ist eingesperrt, aber sein Geist und seine Feder sind frei. Deswegen wollen sie ihn hinrichten. Er ist nun in noch größerer Gefahr als zuvor!«

Die Forderung Mumias und seiner Verteidigung bleibt, auch wenn sie zur Zeit aus formalen Gründen nicht einmal gestellt werden kann, sondern nur mit öffentlichem Druck durchsetzbar ist, ein neues und faires Verfahren – so wie es einer der Bundesrichter, Thomas L. Ambro, in seinem Minderheitsvotum begründet hat: »Wenn auch nur eine einzige Person wegen ihrer Hautfarbe von einer Jury ausgeschlossen wird, verstößt das gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung in unserer Verfassung«, folglich müsse Abu-Jamal ein neuer Prozeß gewährt werden. Und nicht nur die Zusammensetzung der Geschworenen war manipuliert worden, sondern das Strafgericht in Philadelphia hatte 1982 auch Beweismittel falsch oder gar nicht gewertet, Zeugen unter Druck gesetzt, entlastende Aussagen nicht berücksichtigt.

»Yeah, and I am going to help them fry the nigger« (Ich werde ihnen helfen, den Nigger zu grillen), ein Satz wie aus den Tagen der Lynchjustiz gegen afroamerikanische US-Bürger, gesprochen von dem inzwischen verstorbenen Richters Albert Sabo, stand am Anfang des Verfahrens gegen Mumia Abu-Jamal. Der Rundfunkjournalist, der sich mit kritischen Berichten über die Polizei einen Namen gemacht hatte, war am 9. Dezember 1981 in Philadelphia wegen angeblicher Ermordung des (weißen) Polizisten Daniel Faulkner festgenommen worden. Wenige Monate später, am 4. Juli 1982 (Nationalfeiertag), verkündete das Gericht das Todesurteil. Aus dem Prozeßprotokoll der Verhandlung gegen Mumia vom Tag zuvor, dem 3. Juli 1982: »Der Staatsanwalt: ›Mr. Jamal, ich möchte Sie fragen, ob Sie sich daran erinnern, im Januar 1970 gesagt zu haben, ich zitiere: ›Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.‹ Erinnern Sie sich daran, Sir?‹ Der Angeklagte: ›Das war ein Zitat aus dem Werk des Vorsitzenden Mao Tse-tung aus der Volksrepublik China. Es ist vollkommen klar, daß die politische Macht aus den Gewehrläufen kommt, denn andernfalls würde es Amerika heute nicht geben. Gerade Amerika hat schließlich den Indianern die politische Macht nicht mit Hilfe von Gott, nicht mit Hilfe des Christentums, nicht durch Güte weggenommen, sondern mittels der Macht, die aus Gewehrläufen kommt.‹«

Im Dezember 1994, nach seinen ersten zwölf Jahren zwischen Tod und Leben, schreibt Mumia in seinem Buch »Aus der Todeszelle«: »Ich kämpfe weiter gegen das ungerechte Urteil gegen mich. Vielleicht gelingt es uns ja, einige der gefährlichen Mythen zu zerstören, die unserem Denken übergestülpt worden sind – zum Beispiel der Mythos vom ›Recht‹ auf ein nicht befangenes und unparteiisches Geschworenengericht mit Geschworenen ›aus unserer Mitte‹, der Mythos vom ›Recht‹, sich selbst zu verteidigen, oder gar der Mythos vom ›Recht auf einen fairen Prozeß‹. All dies sind nämlich nicht wirkliche Rechte, sondern Privilegien der Mächtigen und der Reichen. Für die Schwachen und Armen sind sie Seifenblasen, die zerplatzen, sobald man nach ihnen greift und sie als etwas Reales, Substantielles für sich in Anspruch nehmen will. Erwartet nicht, daß Euch die Medien hierüber informieren. Sie können es nicht, denn die Interessen von Medien und Regierung und auch von den Großkonzernen, in deren Dienst beide stehen, sind zu eng miteinander verflochten. Aber ich kann es. Und ich werde es tun, selbst wenn ich gezwungen bin, es aus dem Schattenreich des Todes heraus zu tun.«

28 Jahre Todestrakt, Häftlingsnummer AM 8335, auf den guantánamo-roten Overall genäht. Die Zelle im G-Block, dem Todestrakt mit der Hinrichtungskammer, einer zusätzlich gesicherten Anlage innerhalb der Haftanstalt SCI Greene am Rande von Waynesburg, einer Provinzstadt südlich von Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania: ein Betonraum von wenig mehr als 2 mal 3 Metern, wie für alle anderen mehr als 3000 Gefangenen in den Todestrakten der USA. 28 Jahre Isolation: »Jeder Tag ist hier wirklich haargenau wie der andere, und die einzige Chance, daß sich daran etwas ändert, ist die, daß du ihn veränderst, daß du durch dein Handeln darin etwas Neues entstehen läßt. Aber von den Bestimmungen, von den Gepflogenheiten und der ganzen Anstaltspraxis her ist jeder Tag wie der andere, und das für all die Jahre.« Das übliche Zellenmobiliar: Bett, Spind, Abort, Regal, Stuhl und Tisch, als einziges Schreibwerkzeug für Artikel und Bücher ein Kugelschreiber in Gummihalterung, so weich, daß er nur mit Mühe auf dem Papier zu führen ist (Begründung dieser Maßnahme: Suizidvorbeugung).

Hinrichtungstermine und Aufschub, von Verfahren zu Verfahren seit Antritt der Haft, ein illusionsloser Kampf, unterbrochen nur von gelegentlichen Besuchen und den kurzen Zeiten täglichen Hofgangs in einem verdrahteten Käfig, den Mumia mit einem Hundezwinger vergleicht. »Was man draußen im Fernsehen über Knast und Todestrakt gezeigt bekommt, das ist nicht die Wirklichkeit, das sind nicht wir. Wir sind nicht in einem Film, das ist kein Schauspiel, wir sind wirklich im Todestrakt. Deshalb kann ich über gewisse Dinge nicht schreiben, weil das den Leuten draußen so fremd vorkommen würde, daß sie es nicht fassen würden, nicht als wahr akzeptieren könnten, weil es gegenüber ihren eigenen Erfahrungen so fremdartig und unvorstellbar ist.«

Eine Justiz, die sich auf Formalien und politisches Kalkül reduziert, kennen wir nicht nur aus den USA. Die Tatsache, daß alle seit dem zweiten Weltkrieg in den USA vollstreckten Todesurteile nur einen Bruchteil derer ausmachen, die zwischen 1933 und 1945 von Nazi-Richtern und -Henkern im Namen des deutschen Volkes vollstreckt wurden, nimmt dem Protest hierzulande nicht die Legitimation, im Gegenteil, sie sollte als Verpflichtung verstanden werden. Aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, UNO-Resolution 217 A (III) vom 10. Dezember 1948, Artikel 5: »Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.« Albert Camus, 1961: »Um das rechte Verhältnis herzustellen, müßte die Todesstrafe gegen einen Verbrecher verhängt werden, der sein Opfer zunächst warnt, daß er es an einem bestimmten Tag auf schrecklichste Weise ermorden wird, und es von diesem Moment an viele Jahre lang in seiner Gewalt gefangen hält. Ein solches Ungeheuer wird man im privaten Bereich nicht finden.«

Mehrmals im Lauf der 28 Jahre stand Mumia die Hinrichtung unmittelbar bevor: zunächst gleich nach seiner Verurteilung, dann 1995 und 1999. Berufungsanträge seiner Verteidigung und internationale Proteste konnten sie bislang verhindern. Sein Anwalt Robert Bryan weist aufgrund seiner Erfahrungen mit der US-amerikanischen Justiz und seiner Einschätzung der derzeitigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in den USA bei jeder Gelegenheit darauf hin, daß die Frage, ob Mumia hingerichtet wird oder überlebt, letztlich politisch entschieden wird.

Rassismus und Klassenjustiz

Der Prozeß gegen Mumia Abu-Jamal und das Todesurteil gegen ihn gelten als Beispiel für Rassismus und Klassenjustiz. Beides bedarf der Erläuterung.

Bei der Klassenjustiz handelt es sich um eine gesellschaftliche Einrichtung – wie Militär, Polizei und Medien unabdingbar zur Machtsicherung der herrschenden Klasse. Zudem erweist sich das größtenteils privatisierte Gefängnissystem der USA als so profitabel, daß man es als Weiterführung der Sklaverei sehen kann. 2007 war die Zahl der dort gefangen gehaltenen Menschen, überwiegend Jugendlichen meist dunkler Hautfarbe, innerhalb weniger Jahre von etwa 600.000 auf über 2,3 Millionen angestiegen – laut UNO 20 Prozent aller Gefangenen auf der Welt. Mit Ausnahme der in den Todestrakten gehaltenen sind sie zur Arbeit verpflichtet. Die Gefängnisindustrie gilt als drittgrößter Arbeitgeber der USA. »Three Strikes And You Are Out« – drei rechtskräftige Verurteilungen führen nach dieser seit einigen Jahren geltenden Regel zu 15 bis 25 Jahren Haft. Mumia schildert folgendes Beispiel:
»Der Justizskandal von Luzerne County, Pennsylvania: Zwei Richter, Mark Ciavarella und Michael Conahan, bekannten sich am 13. Februar 2009 schuldig, von den Betreibern eines Privatgefängnisses Bestechungsgelder angenommen zu haben. Als Gegenleistung hatten die Richter jugendliche Straffällige zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Sie hatten 2,6 Millionen US-Dollar von den Managern der Firma Pennsylvania Child Care, Betreiberin des Jugendgefängnisses in Pittston Township, und der Tochtergesellschaft Western Pennsylvania Child Care in Butler County erhalten. Was bei der Gelegenheit unterblieb, war der notwendige Blick hinter die Kulissen der Jugendstrafanstalten, in die man diese Jugendlichen warf. In den Anstalten erhielten sie weder ausreichende persönliche Betreuung noch Schul- oder Berufsausbildung. Diesen Widersinn muß man sich vor Augen führen: Eine Gesellschaft verurteilt Jugendliche zu Gefängnisstrafen, weil sie nicht zur Schule gegangen sind, und dann erhalten sie in der Haft keinen Unterricht, stattdessen müssen sie Zwangsarbeit leisten. Außerdem waren Mißhandlungen an der Tagesordnung. Die Jugendlichen wurden vom Anstaltspersonal verprügelt, wobei ihnen Zähne ausgeschlagen und Knochen gebrochen wurden. Ein kaum dem Kindesalter entwachsener Jugendlicher starb sogar an seinen Verletzungen.«

Beim Rassismus handelt es sich um eine Ideologie, die den Herrschenden bei der Durchsetzung ihrer Interessen oder der Rechtfertigung ihrer Handlungen dienlich sein kann. In seinem Grußwort vom 4. Januar 2008 an die Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin warnte Mumia Abu-Jamal, bezogen auf die Schwäche der Arbeiterbewegung in den USA, vor einem »Rassen-Bewußtsein, das das Klassenbewußtsein bis in die heutige Zeit überlagert«. Mumia ist nicht nur Opfer der Rassenjustiz, dem als Afroamerikaner Unrecht geschieht, vielmehr wurde er zum Tod verurteilt und alle Revisionsanträge seiner Verteidigung werden bis heute verworfen, weil er in den USA politisch Widerstand geleistet hat und leistet. Mumia wurde verfolgt, längst bevor er zum Tod verurteilt wurde, weil er sich mit der Black-Panther-Bewegung gegen die Unterdrückung der Unterschichten, die in den USA zu großen Teilen aus »Farbigen« bestehen, gewehrt hat. Die internationale Solidaritätsbewegung tritt vor allem deshalb für Mumia ein, weil er sich politisch nicht unterwirft. »Mumias Körper ist eingesperrt, aber sein Geist und seine Feder sind frei. Deswegen wollen sie ihn hinrichten.« (Robert Bryan)

»Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist, ein Wille, dessen Inhalt gegeben ist in den materiellen Lebensbedingungen eurer Klasse.« Der Satz aus dem Kommunistischen Manifest hat sich seit seiner Veröffentlichung vor 162 Jahren in der Justizgeschichte bürgerlicher Demokratien vielfach bestätigt, auch durch politisch gewollte, im Wissen um die Unschuld der Opfer herbeigeführte und vollstreckte Todesurteile – wie 1927 in den USA durch die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti, ungeachtet weltweiter Proteste und Massenkundgebungen. Fast ausschließlich sind Angehörige der arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerung betroffen, besonders wenn sie als Mitglieder kommunistischer, sozialistischer oder anarchistischer Organisationen gelten oder wie Mumia Abu-Jamal zum afroamerikanischen Widerstand in den USA gehören.

Der Spiegel und die Preisgabe bürgerlicher Werte

Zwei Ereignisse bewegten Mumia bei unserer Begegnung im September vergangenen Jahres besonders: der Selbstmord eines Mitgefangenen im Todestrakt neun Tage zuvor und der ihm gerade zugegangene Artikel des Spiegel vom 24. August 2009: »Die Feuer der Hölle«.

Cordula Meyer, Leiterin des Spiegel-Büros in Washington, war es aufgrund ihrer vorgegebenen Absicht, sich für Mumia und gegen die Todesstrafe zu engagieren, gelungen, Mumia und seinen Anwalt Robert Bryan zu interviewen. Resultat: Die Journalistin gibt Tatsachen, die Mumia möglicherweise entlasten könnten, falsch wieder, spart wichtige Zusammenhänge aus und erweckt den Eindruck, Abu-Jamal und sein Anwalt hätten doch etwas zu verbergen und der Verurteilte befände sich zu Recht in der Todeszelle. Warum sich Mumia und seine Verteidigung seit Jahrzehnten um die Wahrheit in einem neuen Verfahren bemühen, bleibt ausgeblendet. Die Darstellung des Tatverlaufs im Spiegel entspricht folgerichtig der Version der Staatsanwaltschaft. Bezirksstaatsanwalt Hugh Burns aus Philadelphia wird mit den Worten zitiert: »Ich kann mir keinen eindeutigeren Fall vorstellen.«

Statt sorgfältiger Recherche präsentiert Der Spiegel auf rührselige Weise das nach Meinung der Autorin bislang von der Öffentlichkeit ignorierte Schicksal der Polizistenwitwe Maureen Faulkner, die »will, daß Mumia stirbt«, weil sie, solange er lebt, weiterhin »Feuer der Hölle« erleiden müsse. Zitat: »Maureen fing an, sich zu wehren. Sie schrieb Briefe, sie organisierte einen Marsch von Polizisten zum Regierungssitz von Pennsylvania. Dort trafen sich Maureens Freunde und die Mumia-Unterstützer: ›Laßt Mumia frei‹, riefen die einen, ›tötet ihn jetzt‹, die anderen. Im Frühjahr 1995 veröffentlichte Mumia Abu-Jamal sein erstes Buch: ›… aus der Todeszelle: Live from Death Row‹. Maureen mietete ein Flugzeug mit einem Banner, das über dem Gebäude von Mumias Verlag kreiste. »Addison-Wesley unterstützt Polizistenmörder« stand auf dem Banner.« Unterschlagen wird, daß keineswegs Maureen Faulkner den Marsch zum Regierungssitz organisieren und schon gar nicht das Flugzeug mit dem Banner mieten konnte, wohl aber die über 300.000 Mitglieder starke, als rassistisch geltende Polizeiorganisation »Fraternal Order of Police«.

»Mumia ist der Held. Und Danny Faulkner war nur ein weißer Polizist im rassistischen Amerika« – so lautet der Schlußsatz des Artikels, der bereits drei Tage nach seinem Erscheinen von den Philadelphia Daily News begrüßt wurde als »Wendepunkt für Maureens Bemühungen, die Propagandamaschine von Abu-Jamal zu besiegen« (»a turning point in Maureen‘s effort to overcome the Abu-Jamal propaganda machine«).

Plaziert ist der Spiegel-Artikel in der Rubrik Kultur unter dem Stichwort »Mythen«, denen laut Spiegel alle anhängen, die sich engagieren – in diesem Fall für einen »Polizistenmörder«, dem sie die angemessene Strafe – Hinrichtung durch die Giftspritze – ersparen zu müssen glauben. Die Spiegel-Redaktion, die den denunzierenden Artikel abgesegnet hat, nennt stellvertretend für die weltweite Bewegung, die sich für Mumia einsetzt, nur wenige Namen: »Ende März (2009; R. B.) ehrte die Berliner Akademie der Künste den Todeskandidaten mit einer großen Solidaritätsveranstaltung. Auf dem Podium saßen Robert Bryan, der ehemalige FDP-Innenminister Gerhart Baum und Günter Wallraff. Bryan sprach über Rassismus. Baum sagte, die Menschenwürde werde mit Füßen getreten. Wallraff sagte, daß es auch um Abu-Jamals Botschaft gehe, die eines ›Humanisten‹ und ›Pazifisten‹.«

Worum es dem Spiegel über das (selbstverständlich unausgesprochene) Absegnen des Todesurteils hinaus offenbar geht, ist die Disqualifizierung jeglicher kritischer Denkansätze und aller sozialen und politischen Anläufe gegen die Normierung gesellschaftlichen Bewußtseins. Mumia: »Wenn gesagt wird, die Medien seien ein ›Werkzeug des Staates‹, dann ist das reine Untertreibung. Diese Medien ›informieren‹ nicht, sie mißinformieren und uniformieren ihre Konsumenten, verblenden uns und unser Denken, damit wir nichts mehr sehen, was noch wert sein könnte, von uns angesehen und näher betrachtet zu werden.«

Der Spiegel liegt im Trend. Es bedarf keiner Gleichschaltung der bürgerlichen Medien, sie vollzieht sich als eigenständiger Prozeß, der keiner Verordnung mehr bedarf. Die Preisgabe bürgerlicher Werte und der Verfall bürgerlicher Kultur sind bedingt durch den Niedergang des Bürgertums selbst. »Was beweist die Geschichte der Ideen anderes, als daß die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet?« (Manifest) Um seine gefährdete ökonomische Basis zu sichern, bedarf der Kapitalismus zunehmender Kontrolle der denkfähigen Menschen und erhöhten Einsatzes an Machtmitteln. Die mit den bürgerlichen Revolutionen durchgesetzten und in den Verfassungen bürgerlicher Staaten verankerten Wertvorstellungen müssen im Interesse der Eigentumssicherung an den Produktionsmitteln Schritt für Schritt – dem Fortschreiten der Krise entsprechend – preisgegeben werden. Bertolt Brecht 1935: »In Wirklichkeit ist die bürgerliche Welt nur unter Aufgabe der bürgerlichen Kultur zu retten.«

Mumia: »Ich habe immer schon gesagt, daß Liebe eine Wechselbeziehung ist, sie sitzt nicht irgendwo in einem Herzen fest, sondern sie ist in Bewegung, ist ein ständiges Geben und Nehmen. Wenn du Liebe gibst, wird auch dir Liebe geschenkt. Wenn du andere unterstützt, wirst auch du Unterstützung erfahren.«

1989 veröffentlichte auf Initiative der Deutschen Journalisten-Union das Gewerkschaftsblatt Die Feder den ersten Solidaritätsaufruf für Mumia Abu-Jamal, der in der Folge breite Unterstützung in den Organisationen des DGB fand. Doch dann setzte, nicht nur in dieser Frage, zunehmende Passivität ein. Aktiv blieben fast nur das Internationale Verteidigungskomitee, die Rote Hilfe, Solidaritätsgruppen und der P.E.N. mit seiner Sprecherin Sabine Kebir. Seit kurzem erst scheint sich das zu ändern, Resolutionen wie von ver.di Düsseldorf oder Hamburg, sogar aus parlamentarischen Vertretungen von Städten wie Bremen und München sind als gute Zeichen der Einsicht zu werten, daß wir wieder über den eigenen Tellerrand hinaussehen, uns auch übergreifender sozialer und politischer Fragen annehmen, das Standort-Denken überwinden.

»Die Stimme der Stimmlosen« wurde Mumia bereits vor seiner Verhaftung genannt. 28 Jahre Todeszelle haben ihn nicht zum Schweigen bringen können: »It’s a question of your mind. Du mußt durchschauen, warum das so läuft, du mußt politisch dafür arbeiten, daß sich das ändert.« Woche für Woche erscheinen in mehreren Ländern seine Stellungnahmen. Beispielsweise am 7.11.2009 in der jungen Welt mit dem einleitenden Satz: »Wenn an der Wallstreet die Champagnerkorken knallen, gab es in Harlem noch nie einen Grund zum Feiern.« Mumia schreibt ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, die seine Äußerungen für ihn selbst haben. Die nach wie vor anstehende Frage lautet: Tod oder Leben.

Angela Davis, Sprecherin der US-Kampagne gegen die Todesstrafe: »Im Namen der Gerechtigkeit bitten wir Sie um Ihre Unterstützung und eine großzügige Spende im Rahmen Ihrer Möglichkeiten.« Spendenkonto: Archiv 92, Sonderkonto Jamal, S.E.B. Bank Bremen, Kontonummer 1008738701, Bankleitzahl 290 101 11, Stichwort »Verteidigung«.
[Spendenaufruf: http://www.freedom-now.de/news/artikel313.html]

Mumia Abu-Jamal hatte am 24. April Geburtstag. Er ist jetzt 56 Jahre alt. Die Hälfte seines Lebens hat er im Todestrakt verbracht. Die Anschrift von Mumia, der sich über jeden Gruß freut, auch wenn er nicht immer antworten kann:
Mumia Abu-Jamal
# AM 8335, SCI Greene
175 Progress Drive
WAYNESBURG, PA 15370, USA

Briefe an ihn sind immer auch ein Zeichen gegenüber der US-Justiz.
[Ende des Artikels von Rolf Becker]

* Rolf Becker ist Theater- und Filmschauspieler, Mitglied der Gewerkschaft ver.di, Fachbereich Medien, Ortsvereinsvorstand Hamburg. Er hat Mumia Abu-Jamal im September 2009 im Todestrakt besucht. Das junge Welt-Interview dazu kann hier nachgelesen werden:
http://www.freedom-now.de/news/artikel549.html.

Im Ossietzky Sonderdruck ist auf der letzten Seite noch eine Kolumne von Mumia Abu-Jamal angefügt, die am 23. Mai 2009 in der Tageszeitung junge Welt veröffentlicht war:

US-Verfassung – Mythos und Wirklichkeit


Von Kindesbeinen an hören wir in den USA, daß unsere glorreiche Verfassung das Herzstück der amerikanischen Staatsreligion ist. Schulkindern wird traditionell beigebracht, weite Teile der Verfassungsbestimmungen nachzubeten. Das Ganze eingebettet in die nationale Mythologie von den »Gründungsvätern«, die verehrt werden wie Superstars, weil sie der Nation angeblich himmlische Freiheiten auf Erden beschert haben.
All das ist Glaubensbekenntnissen ähnlich, die uns schon in der Kindheit eingebleut wurden und die oft nur schwer wieder abzuschütteln sind, weil sie zum Fundament unseres Denkens geworden sind. Alle Nationen verfügen über solche Gründungsmythen. Die Griechen beispielsweise glaubten über Jahrhunderte an die Existenz einer Ruhmeshalle launenhafter und nicht selten übelwollender Götter wie Zeus, Pallas Athene, Hera und Ares, dem Gott des Krieges, und erklärten sich aus deren Wirken die Unwägbarkeiten und Mühen von Leben und Tod.
Die »Gründungsväter«, wie über sie bis heute in den US-Schulen gelehrt wird, sind ein aktueller amerikanischer Mythos. Wie kann es aber sein, daß Sklavenherren gleichzeitig die Schöpfer der Freiheit sein sollen, solange sie nicht auch ihre Sklaven in die Freiheit entlassen? Fast alle dieser Begründer der Nation der Vereinigten Staaten von Amerika – George Washington, Thomas Jefferson und sogar Patrick Henry, der vor der Virginia Convention 1776 sagte: »Gebt mir Freiheit, oder gebt mir den Tod!« – hielten Sklaven auf ihren Besitztümern.
Abdul Jon, ein antirassistischer Aktivist, sagte einmal: »Man muß nur dann über Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und alle anderen Arten von Grundrechten sprechen oder schreiben, wenn man nicht über sie verfügt. Denn wenn man diese Freiheiten genießt und mit niemandem ein Problem hat, der sie ebenfalls genießen kann, wenn diese Freiheiten also verwirklicht sind, dann muß man sich auch keine Gedanken darüber machen, wie sie zu schützen sind.« Ein wahres Wort!
Als sich 1865 in den USA der Rauch des Kampfgetümmels nach vier Jahren Bürgerkrieg verzog, verabschiedete der US-Kongreß die »Reconstruction Amendments« als Zusätze zur Verfassung. Diese Bestimmungen garantierten Millionen befreiten Sklaven, von denen viele auf seiten der siegreichen Unionstruppen gekämpft hatten, die uneingeschränkte US-Staatsbürgerschaft. Die Regelungen verboten Diskriminierung und garantierten männlichen Bürgern das Wahlrecht. Allerdings nur auf dem Papier.
In Wirklichkeit wurden diese Verfassungsrechte der afroamerikanischen Bevölkerung durch den Terror weißer Haßorganisationen, durch rassistische Gerichte und Gesetze weitere hundert Jahre lang vorenthalten. Und das geschah sowohl auf höchster Regierungsebene als auch auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten, bis ab der Mitte des 20. Jahrhunderts die schwarze Bürgerrechtsbewegung erstarkte und Forderungen nach gleichen Rechten stellte.
Daraus entstand allerdings ein weiterer Mythos, der glauben machte, diese Bewegung hätte allen Schwarzen neue Freiheiten gebracht oder diese seien von urplötzlich erleuchteten Gerichten garantiert worden. Die Wahrheit ist, daß zwar Rechte errungen wurden, aber nur für die, die sie sich auch leisten können. Mit anderen Worten: Die Freiheiten kamen erst einmal nur der schwarzen Mittelschicht zugute, weil sie über die Mittel zu ihrer Verwirklichung verfügte.
Für die breite Mehrheit der in Armut oder am Rande des Existenzminimums lebenden afroamerikanischen Bevölkerung aber haben die verfassungsmäßig garantierten Rechte eine Bedeutung von der Art, wie sie der französische Schriftsteller Anatole France (1844–1924) ironisch beschrieb: »Das Gesetz verbietet mit seinem hoheitlichen Gleichheitspostulat sowohl den Reichen als auch den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen!«
Was ist mit dem verfassungsmäßigen Recht auf Bildung, Wohnung und Arbeit oder dem Recht auf Leben? Solange nur ein Stück Papier angebetet wird, wird alles bleiben wie bisher – die einen feiern ihre Verfassung, während den anderen weiterhin ihre Rechte vorenthalten werden.
Übersetzung: Jürgen Heiser
[Alle Wochenkolumnen von Mumia Abu-Jamal sind hier zu finden:
http://www.freedom-now.de/news/index.html?cat=1]

OSSIETZKY – Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Herausgegeben von Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Arno Klönne, Otto Köhler, Eckart Spoo

Website: http://www.ossietzky.net/

Redaktion:
Eckart Spoo
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4
10405 Berlin
Telefon 030 / 42 80 52 28
Fax 030 / 42 80 52 29
E-Mail: espoo@t-online.de

Bestellung des Sonderdrucks online:
http://www.ossietzky.net/sonderdrucke&textfile=1005

Sonstige Bestellungen und Abos (58,00 Euro für 25 Hefte):
Verlag Ossietzky GmbH
Weidendamm 30 B
30167 Hannover
Fon 0511 / 1234 777
Fax 0511 / 21 55 126
E-Mail: ossietzky@interdruck.net

 
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