Kolumne # 794 vom 7.03.2016: Versuchskaninchen

07.03.16 (von maj) In den 1950er bis 1970er Jahren nahmen in den USA Tausende Häftlinge an medizinischen Experimenten teil

Mumia Abu-Jamal * Link zum Artikel in junge Welt Nr. 56 vom 07. März 2016: Bitte HIER klicken![1]

Versuchskaninchen
Anlässlich des »Black History Month« im jetzt zu Ende gegangenen Februar erzählten wieder viele Schwarze großartige Geschichten über großartige Heldinnen und Helden, über schwarze Krieger, die gegen niederträchtige Rassisten für die Freiheit kämpften. Was ich heute erzählen möchte, ist keine Geschichte dieser Art.
Als ich vor vielen Jahren noch als Reporter für Public Radio arbeitete, rief mich eines Tages ein Mann an, den ich aus der schwarzen Freiheitsbewegung kannte. Er wollte mich treffen, wollte aber am Telefon nicht über den Grund reden. Als ich ihn dann abends zu Hause aufsuchte, begrüßte mich seine Frau an der Tür, und er rief mich zu sich ins Schlafzimmer. Als er bei schwachem Licht sein Hemd auszog, fuhr ich erschreckt zurück. Vom Hals bis hinunter zu seinen Oberschenkeln breiteten sich Hautverfärbungen aus, wie ich sie noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Sein Körper war gefleckt wie das Fell eines Leoparden, pockennarbig, mit abblätternden dunklen und hellen Hautfetzen, sein Oberkörper wie ein verwittertes Schachbrett. Aus seinen dunklen Augen sprachen Zorn und Scham.
Als junger Mann hatte er vor Jahren im Staatsgefängnis Holmesburg gesessen und sich freiwillig zur Teilnahme an einer medizinischen Studie der University of Pennsylvania bereit erklärt, um sich ein paar Dollars zu verdienen. Er musste einen sogenannten Patch-Test machen, mit dem Kontaktallergien erforscht werden. Dazu wurden Pflaster auf seine Haut aufgebracht, die mit Chemikalien versetzt waren. Diese bewirkten, dass unter den Pflastern das rohe Fleisch hervortrat. Die offenen Wunden wurden anschließend mit Mullbinden bandagiert.
Die Gefangenen erhielten dafür zwischen zehn und 25 US-Dollar auf ihrem Gefängniskonto gutgeschrieben, wovon sie sich Schokoriegel, Zigaretten und Lebensmittel kaufen konnten. Es waren zumeist Schwarze, die an diesen medizinischen Tests teilnahmen und sich keine Gedanken über die Folgen machten, die sich erst Jahre später zeigten. Dann war der Hungerlohn schon längst vergessen, aber die Wunden und Narben aus den Versuchsreihen blieben ihnen noch für lange Zeit. Der Name des Exhäftlings war Leodus Jones, und ich werde niemals seine Worte vergessen: »Ich kann nicht mal mehr mit meiner Frau zusammensein, Mann – sie darf den Scheiß nicht sehen.«
In den 1950er bis 1970er Jahren nahmen Tausende Häftlinge an diesen Experimenten teil, die aufgrund ihrer Gefangenschaft unfreiwillig zu potentiellen Probanden geworden waren. Manche von ihnen wurden verrückt, andere litten viele Jahre körperlich unter den Folgen. Die Projektleitung hingegen schlug ebenso wie die Universität Millionenprofite aus den Erkenntnissen, die sie aus den Experimenten gewannen. Beispielsweise wurde daraus »Retin-A« entwickelt, ein Kosmetikum. Es verhalf seinen Entdeckern Albert Kligman und James Fulton zu großem Reichtum. Für die armen Kerle jedoch, die ihre Haut dafür zu Markte trugen und mit ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden bezahlten, blieben nur Pennys – und Schmerzen. Kerker und Kapitalismus – und Ausbeutung – ergänzen sich perfekt.
Wenn ich also an den »Black History Month« denke, dann fallen mir die Schicksale dieser Männer ein, die heute vielleicht schon Großväter sind, fürs Leben gezeichnet, manche von ihnen wie gefoltert, deren Leiden anderen große Gewinne gebracht hat.

Übersetzung: Jürgen Heiser


Links im Artikel: 1
[1] https://www.jungewelt.de/2016/03-07/102.php?sstr=versuchskaninchen

Ausdruck von: http://freedom-now.de/news/artikel1374.html
Stand: 28.03.2024 um 12:49:24 Uhr