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Kolumne 17.01.09: Hundert Jahre Hoffnungen

17.01.09 (von maj) Illusion und Realität: Die Obama-Wahl nährt den langen Traum vom »post-rassistischen Amerika«

Mumia Abu-Jamal * junge Welt Nr. 14 - 17./18. Jan. 2009

Der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen hat bei Millionen US-Bürgern die Illusion erzeugt, wir hätten das gelobte Land erreicht. Der Wahlsieger Barack Obama erinnerte durch die bildhafte Symbolik seiner Auftritte an den legendären Dr. Martin Luther King jr. und rief dessen epischen Ausspruch »Ich habe einen Traum« ins Gedächtnis, um zu suggerieren, dieser Traum sei nun Realität geworden. Vielerorts herrscht das tiefempfundene Gefühl vor, wir alle seien nun frei und lebten endlich in einem »post-rassistischen Amerika«.
Aber tun wir das wirklich? Wahr ist, daß wir an der Schwelle einer historischen Veränderung stehen, wie es sie in den USA so noch nie zuvor gegeben hat. Es gab allerdings eine Zeit, in der vergleichbare Gefühle die Nation – und hier vor allem viele Herzen in der schwarzen Bevölkerung – ergriffen hatten. Auch damals schien eine neue Zeit angebrochen, alte Verhältnisse überwunden und die Freiheit unmittelbar greifbar.
Die Rede ist hier von der Ära der »Reconstruction«, jener Wiedereingliederungsphase der sezessionistischen Südstaaten nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg 1860–65, die sich bis 1877 hinzog.
Der Begriff »Reconstruction« umfaßt sowohl den Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten Landes als auch die Neukonstruktion der durch die Sklaverei geteilten Gesellschaft. Wesentlich war daran, daß dem männlichen Teil der schwarzen Bevölkerung grundlegende Bürgerrechte zugebilligt wurden. Wohlgemerkt, schwarzen Frauen sollten diese Rechte noch lange nicht zukommen! Schwarze Männer konnten nun Ämter in den einzelnen US-Bundesstaaten und auf der Bundesebene übernehmen. Das löste eine Welle fortschrittlicher Gesetzgebung aus, die nach und nach die entsetzliche Lage der schwarzen Bevölkerung verbesserte.
Die Rekonstruktionsphase war jedoch nur von kurzer Dauer. Die Rassisten wollten der weißen Vorherrschaft wieder Geltung verschaffen, die von der veränderten Rechtslage nach dem Bürgerkrieg spürbar bedroht war: Mit dem 13. Zusatzartikel zur Verfassung war 1865 die Sklaverei auf dem gesamten Gebiet der USA abgeschafft worden. Der 14. Zusatzartikel von 1868 definierte den Begriff der Staatsbürgerschaft neu und garantierte allen in den USA geborenen oder eingebürgerten Personen unabhängig von Herkunft und Ethnie gleiche Bürgerrechte. Der 15. Zusatzartikel von 1870 schließlich gewährte allen männlichen Bürgern der USA unabhängig von Hautfarbe und ehemaligem Sklavenstatus das Wahlrecht.
Der Oberste Gerichtshof in Wa­shington D.C. spielte eine entscheidende Rolle dabei, diese Verfassungszusätze wieder auszuhebeln, beispielsweise mit seinen Grundsatzentscheidungen in den Slaughterhouse-Fällen (1873). Der Supreme Court stellte die Rechte der US-Bundesstaaten über die bundesweit geltende US-Verfassung und signalisierte damit den ehemaligen Sklavenhalterstaaten, ihre fortgesetzte Negierung der Rechte der Schwarzen und ihre Aussonderung sei kein Verstoß gegen die Verfassung. Noch weit über hundert Jahre sollten sich die Hoffnungen und Träume von Millionen Schwarzen auf ein freies Leben zerschlagen und die Lüge von der »Überlegenheit der weißen ›Rasse‹« aufrechterhalten werden.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs und der formellen Abschaffung der Sklaverei hatten viele Schwarze ihre Sklavennamen durch afrikanische ersetzt, um ihre neue Freiheit zu dokumentieren, sich selbst definieren zu können. Sie organisierten ihre eigenen Kirchengemeinden, gründeten Schulen und eröffneten Geschäfte. Sie kandidierten für lokale und Bundesämter, saßen als Geschworene in Gerichtsverfahren und gingen in Scharen zum Traualtar.
Aber in weniger als einer Genera­tion wurden ihnen all diese neugewonnenen Rechte wieder streitig gemacht – durch Gesetze, die »Macht der Gewohnheit« und die Schreckensherrschaft des rassistischen Terrors.
Was diese historische Entwicklung allen Betroffenen auf brutale Weise klarmachte, ist die Tatsache, daß Freiheit ein flüchtiges Gut sein kann. Es zählt weder, was in Verfassungsgrundsätzen niedergelegt wurde, noch das Gerede und die Versprechungen von Politikern. Es zählt nur das, was sich soziale Bewegungen im Kampf erstreiten.

Übersetzung: Jürgen Heiser

 
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